Ein Unwetter bin ich,
Ein Schrei, ein wildes Tier.
Doch mitten im Schrecken
Spür‘ ich eine gewaltige Kraft
Nein, sprechen Sie nicht,
Und fassen Sie mich nicht an
Aus dem Dunkel der Urzeit
Schieb‘ ich mein Kind ans Licht hinan.
Ein letzter Kampf noch
Der meinen Körper zerreisst
Und endlich die Stille
Die Erlösung verheisst.
Nein, sprechen Sie nichts
Oh! Seien Sie still sogar
Ich halte das Leben in meinen Händen
Und mein Kleines ist da
Die Zeit nach der Geburt ist physiologisch gesehen nicht von der Geburt selbst zu trennen. Deswegen habe ich mit einem Geburtslied angefangen.
Fabienne Marsaudon (Dichterin, Komponistin, Sängerin) vor kurzem in Frankreich kennengelernt. Sie ist auch Mutter. Ich habe noch nie ein so intensives Lied zum Thema Geburt gehört. Deswegen wollte ich es Ihnen vorstellen. Dazu kommt natürlich, dass ich Französin bin, unsere französische Kontaktfrau konnte wegen ihren Kindern nicht kommen. Was wir in den Vorträgen hören werden, findet sich in diesem Lied in einer poetischen Form: Die Geburtshormone die gleichzeitig die Liebeshormone sind. Fabienne dichtet, wir können was sie sagt mit den Worten und den Augen eines/einer Physiologen/In ausdrücken und berichten wie die Liebe heute wissenschaftlich betrachtet werden kann.
Die Liebe und auch die Mutterliebe ist aber schon immer ein Thema für Dichterinnen und für die Künstlerinnen gewesen. Dieses Lied vereinbart alles.
Deswegen mache ich hier eine kleine Textanalyse. Die Grundbedürfnisse einer Gebärenden werden angesprochen:
“Wenden Sie ab den Blick” (sich nicht beobachtet fühlen)
“Schweigen Sie sogar”, “Seien Sie still” (keine Ablenkung oder Anregung des Neocortex)
“Fassen Sie mich nicht an” (keine Störung und Verletzung der Intimsphäre)
Der Wechsel von einem Bewusstseinszustand in den anderen wird deutlich, sie ist auf einem anderen Planeten, sie löst sich auf in der Gewalt der Elemente und zwischen durch ruft sie:“bitte nicht stören!”
Die Wellen der Wehen wechseln sich ab mit den Wehenpausen, Strophe und Refrain. Mal ist ihre neocortikale Aktivität ausgeschaltet:
“ich bin ein wildes Tier”, dann ist sie ungehemmt “ich bin ein Schrei”.
Archaische Wahrnehmung und die Bedeutsamkeit ihrer Geburtsarbeit wechseln sich rasch ab:
“Ich habe zu tun mit dem LEBEN” und “aus dem Dunkel der Urzeit schieb ich mein Kind ans Licht hinan!”
und dann die grenzenlose Emotion, Verwunderung, Anbetung fast:
“Ich halte das Leben in meinen Händen, mein Kleines ist da ...”
Es ist nicht nötig zu sagen, dass nur eine nicht medikalisierte Mutter durch diese Erfahrung geht, nicht nötig zu betonen, dass die Geburt ihres Kindes ein Meilenstein ihrer Biographie darstellt, eine einmalige Zeit in der ihre Fähigkeit die Grenzen zu überschreiten erfahrbar und deutlich wird /Grenzen in vielen Deutungen.
Ihr Selbstbewusstsein, ihre Selbstachtung und ihr Gefühl für ihre Kompetenz steigern sich durch diese Erfahrung.
Mein Kleines an mich gedrückt
Mein Kleines so innig an mich gedrückt
Wie spür ich deinen Körper,
wie bin ich entzückt
Ich möchte dich atmen,
Dich an mich schmiegen,
In Liebe dich hüllen, im Arm dich wiegen
Denn du bist eben ins Leben getreten.
Möge sich der Augenblick einprägen
In meine Seele für immer,
Möge das Glück Wurzeln schlagen
In meinem Herzen für immer.
Es ist so süss dich zu betrachten
Mein Blick ist ganz in dich verloren
Ich bin erfüllt von deinem Leben
Und fühl mich neu
durch dich geboren.
Wie klein du bist
Du schläfst in der Wiege meiner Arme,
Während ich dich betrachte,
Entdecke ich all meinen Mut
Um dich zu beschützen
Um alle Gefahren von dir abzuwenden.
Lied, Imaginacom – Les édition de l’attrapeur de reves, 11, Cité Ker Hent Coz, F – 56690 Nostang
Übersetzung Elisabeth Geisel und Bärbel Petersen, Göttingen
Das zweite Lied von Fabienne Marsaudon, das ich Ihnen vorstellen möchte, handelt vom allerersten Moment mit dem Neugeborenen. “Tout petit contre moi” In diesem Lied hören wir vom Hautkontakt, von innigen Bindungsverhaltensweisen: “Ich möchte dich atmen (Der Geruch als Bindungsfaktor)
Wir hören regelrecht den Ausdruck höchster Ausschüttung von Liebeshormonen unmittelbar nach der Geburt. Alle Merkmale des Neugeborenen lösen zusätzliche liebende, schützende, mütterliche Verhaltensweisen aus (klein, zart, zerbrechlich). Das Verlieben findet auch statt über die Augen:
“Mein Blick ist ganz in dich verloren” Die von Katecholaminen ausgeweiteten Pupillen des Neugeborenen faszinieren die Mutter.
Schützende Gedanken auf der Basis von Adrenalin und Prolaktin: “Ich fürchte du frierst” und weiter “ich entdecke all meinen Mut um Gefahren von dir abzuwenden”. Gerade diese schützende Verhaltensweise wird durch die Routinemassnahmen bei der Mutter herausgefordert!
Ausser Raum und Zeit, im Rausch der Endorphine äussert sie Wünsche für das ganze Leben, sie spürt wie diese Liebe schicksalhaft, bedingungslos für immer Wurzeln schlägt in ihrer Seele, für immer in ihrem Herzen.
Die bedingungslose Liebe entsteht in diesem Moment wertvoller als alles andere: Transformation ist geschehen “Ich bin durch dich neugeboren”.
Wie klein du bist!
Ich wusste nicht,
wie stark die Flut der Liebe ist,
im Augenblick, da du erschienst.
Zerbrechlich bist du und so zart,
und klein vor allem, ach so klein
Wie klein du bist
Ich fürchte, du könntest frieren
Lass dir die ganze Wärme geben
Die plötzlich strömt aus meinem Herzen
Ganz leis’ berühr ich deine Wange
Fast ist mir vor der Zartheit bange.
Möge sich der Augenblick einprägen
in meine Seele für immer!
Du hast meinem Leben Sinn gegeben
Im Augenblick, da du erschienst.
Es ist so süss dich zu betrachten
Mein Blick ist ganz in dich verloren.
Ich bin erfüllt von deinem Leben
und fühl mich neu durch dich geboren.
Und fühl mich neu durch dich geboren.
Wir sollen aufpassen, dass die Liebesfähigkeit, am Anfang des Lebens nicht erstickt wird. Wir, ENCA-Frauen verstehen dies als unsere Aufgabe.
Wenn wir uns von der Richtschnur der Physiologie und damit der Liebe nicht zu weit entfernen, werden diese Lieder noch im nächsten Jahrhundert einen Sinn haben.
Die Anästhesie während der Geburt verändert völlig die Hormonausschütung „Die unglaubliche Anzahl an Veränderungen die der mütterliche Körper durchmacht um einen Embryo zu ertragen und um ein Neugeborenes zu ernähren scheinen auf jedem einzelnen System eine biologische/neurobiologische Prägung, Spur (mark) zu hinterlassen“.
Tomizawa zeigt in einem Artikel (Nature Neuroscience vol. 6 no 4 April 2003) wie Oxytozin in einer Kettenreaktion das Binding-Protein im Hippocampus (Stammhirn) beeinflusst und wie diese die synaptische Plastizität im Gehirn verändern (die veränderte Plastizität bringt räumliches Langzeit-Gedächtnis.) Forschung an Mäusen: Die verbesserte räumliche Fähigkeit der Muttermaus um Futter zu finden und um zurück zu ihrer Brut zu finden, sich zu erinnern welches der Babys noch nichts bekommen hat usw. .. kann interpretiert werden als eine Fähigkeit die für das Wohl, das Durchbringen der nächsten Generation umgemünzt ist. Diese Fähigkeit ist ursprünglich von Oxytozin ausgelöst, die bei der Geburt und bei der Laktation ausgeschüttet werden.
In wieweit gilt es für Säugetiere der Homo Sapiens Gattung: auch für Menschenmütter?
Geschieht bei uns auch eine synaptische Veränderung auf der Basis von Oxytozinausschüttung? Wofür und vor allen Dingen für WEN und wessen Wohlergehen? Wenn daraus Vorteile entstehen für die Erhaltung der Spezies, für die nächste Generation, wie wirkt sich das Ausbleiben dieses Prozesses aus auf die Fähigkeit der Mütter für ihre Nachkommen zu sorgen und sie zu bemuttern? (Ich erinnere an die Experimente von Krehbiel und Poindron mit PDA bei Mutterschafen). Finden wir hier nicht einen Anfang einer Antwort auf die befremdende Beobachtung, dass Mütter oft und zunehmend hilflos sind (Schreibabys) nicht mehr für ihre Kinder sorgen können? Eine heisse Spur!
Es ist bekannt, dass Geburt und Laktation von pulsierender, steigender Oxytozinausschütung begleitet werden (grosse Unterschiede wegen Geburtsmodus). Wegen der Gehirnschranke (Sperre) kann synthetisches Oxytozin aus dem Tropf nicht die gleichen Veränderungen hervorrufen, weder im Gehirn noch in den Verhaltensweisen. Nur periphere Wirkung also Kontraktionen der Gebärmutter. Nach einer physiologischen Geburt findet die höchste Ausschüttung an Oxytozin statt, wenn die Mutter ihr Kind an sich nimmt, es hält und anschaut (wie im Lied). Dies sichert auch die Ablösung der Plazenta.
Auch wenn wir Menschen, nicht im gleichen Masse wie Tiere, von unseren Hormonausschüttungen abhängig sind, wird die massenhafte Verwendung von Anästhesie für die Geburt sich individuell und gesamtgesellschaftlich auswirken und wir werden auf der gesellschaftlichen/kulturellen Ebene mit den Konsequenzen einer modifizierten Bindungsverhaltensweise langfristig konfrontiert werden.
Was zur Zeit passiert, ist noch nie da gewesen. Eine völlig neue Basis für das Zustandekommen der ersten Begegnung der ersten Bindung. Die Physiologie ist durcheinander.
Eine Gesellschaft in der die Mehrheit der Mütter nicht mittels ihrer eigenen Hormone geboren hat (Liebeshormone) und das über eine oder zwei Generationen, wird eine andere Wertvorstellung entwickeln, andere Prioritäten setzen, die Einstellung zu Kindern und deren Bedürfnissen, eine andere Wahrnehmung zu deren Zerbrechlichkeit entwickeln. Noch ein Aspekt: Respekt. Unsere Bedenken gegenüber der allgegenwärtigen Gewaltäusserungen der Jugendlichen mag in Entsetzen umschlagen.
Das Europäische Modell der Geburt, medikalisiert, technisiert, industrialisiert mit Kaiserschnitt, PDA und Hormontropf, hat einen leichten Einzug in den Ländern des Osten gefunden, wo die Gesundheitssysteme verändert werden, wo finanzielle Interessen eine zunehmend grosse Rolle spielen und wo es modern erscheint die Technik zu benutzen (die soll die „menschenunwürdige“ Geburtshilfe ersetzen). Dieses Modell breitet sich rasch aus über den ganzen Planeten (80% Kaiserschnitt in Mexico City und in Brasilien).
Die Kluft zwischen dem, was wir von den Neurosciences, Gehirnforschung, Psychologie und was wir über die Geburtsphysiologie erfahren einerseits, und dem, was täglich in den Geburtsstationen gemacht wird andererseits, diese Kluft ist nie weiter gewesen.
Die niedrige Stillhäufigkeit ist ein Aspekt desselben Phänomens. Die Liebeshormone die während einer Mahlzeit bei Mutter und Kind fliessen befestigen die Bindung zwischen den beiden. Es ist bekannt inzwischen, dass Oxytozin Verhaltensweisen auslöst wie: Barmherzigkeit für die Schwächeren und Bedürftigen (zuerst für das Kind aber auch für andere Schwächere und Hilfsbedürftige in der Gesellschaft, arme, behinderte, alte Menschen etc.) Der Prolaktinfluss im Westen ist ausgetrocknet. Ist unsere Gesellschaft nicht zunehmend von Egoismus geprägt? Der Zeitgeist kann auch in diesem Kontext betrachtet werden. Kentenich:„ Eine Gesellschaft wird ihre Humanität daran messen müssen, wie sie mit den Schwächsten umgeht.“
Der Ruf nach rigorosen Gesetzen für den Schutz von Kindern könnte noch lauter im Europäischen Parlament werden, und die Strafen für die Verbrecher noch höher. Tief empfundene Barmherzigkeit und Respekt für die Schwächeren aber wird nicht entstehen in einer Gesellschaft, wo der Fluss der Liebeshormone verhindert ist, von Anfang an, in der sensiblen Phase, sensibel fürs Kind und für die Mutter.
Anästhesie ist die subtilste Art flächendeckend die Mutterliebe herauszufordern, die altruistische schützende instinktive Verhaltensweise auf die Probe zu setzen. Anästhesie ist gut akzeptiert, es ist nicht mehr modern zu leiden für die Geburt des Kindes. (Bedeutung der Bedingungen der Geburt verbessern damit der Schmerz erträglich ist). Damit wird die bedingungslose Liebe in Frage gestellt, an ihrer Stelle tritt die Liebe unter Bedingungen die das Kind erfüllen soll. Die Umkehrung findet statt.
Im Laufe der Jahrtausende, sind die schützenden Verhaltensweisen der Mütter immer herausgefordert worden (zuletzt Freud’sche Theorie). Aber Mütter konnten bis vor kurzem nur mittels ihrer Hormone Kinder gebären und sie durchzubringen ging eigentlich nur mit Frauenmilch. Auf dieser Art ist die Menschheit durchgekommen und hat die Herausforderungen der Evolution durchgestanden, durch Kriegszeiten und Hungersnot. Mit dieser Basis am Anfang des Lebens hat die Menschheit den heutigen Punkt erreicht. Ein Wendepunkt !
Die Forderung die wir hier als ENCA formulieren ist nicht zuerst die Kaiserschnittsrate oder die PDA-Rate zu reduzieren, sondern die Physiologie der Geburt besser zu verstehen und die Erkenntnisse daraus in die Tat umzusetzen.
Elisabeth Geisel, Göttingen, ENCA-Koordinatorin und Autorin des Buches "Tränen nach der Geburt,
wie depressive Stimmungen bewältigt werden können ", Kösel Verlag 1997
Ganzer Text als PDF-Datei